Lehrbuch Lyme-Borreliose


12.25

Polyneuropathie bei LB


Die Polyneuropathie ist (nach Erfahrung des Verfassers) eine häufige Manifestation der Lyme-Neuroborreliose. Allerdings liegen Studien über die Häufigkeit bei europäischen Patienten nicht vor. Überhaupt ist die Literatur zur Polyneuropathie bei LNB relativ spärlich.

Die Polyneuropathie tritt mehr oder weniger symmetrisch auf, meistens im Bereich der unteren Extremitäten, entweder ausschließlich mit sensiblen Symptomen oder als sensomotorische Polyneuropathie. Meistens lässt sich ein axonal-demyelinisierender Prozess nachweisen.


Die Polyneuropathie kann über viele Jahre bei stetiger Progredienz zu erheblicher Krankheitsausprägung und Behinderung führen.

Zur detaillierten Information und Zuordnung der Polyneuropathie zu sonstigen Symptomen der LB werden die wesentlichen Publikationen über die Polyneuropathie bei Lyme-Borreliose im Folgenden epikritisch dargestellt (Kap. 12.26).

Die Ansicht, dass eine Polyneuropathie bei LB bei europäischen Patienten meist in Assoziation mit einer Acrodermatitis chronica atrophicans (ACA) gesehen wird, ist unzutreffend und durch Literatur nicht belegt. Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie vertritt in ihrer Leitlinie „Neuroborreliose“ diese unzutreffende Ansicht (1). Sie bezieht sich dabei auf die Publikationen von Hopf, 1975 (2), Halperin et al., 1990 (3) und Logigian et al., 1999 (4). Gemeint ist aber offensichtlich die Arbeit von Logigian et al., 1990 (6).

Die Publikation von Hopf, 1975 ist vor der Entdeckung der Lyme-Borreliose erschienen und beschreibt lediglich die Beobachtung, dass eine Polyneuropathie bei Acrodermatitis chronica atrophicans auftreten kann. Über die Häufigkeit der Polyneuropathie bei Lyme-Borreliose macht die Publikation verständlicherweise keine Aussage, da die Lyme-Borreliose zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht bekannt war. Entsprechend ist in dieser Publikation auch keine Aussage möglich, ob die Polyneuropathie bei der LB ohne ACA auftreten kann.
 
Die Arbeiten von Halperin et al., 1990 (3) und Logigian et al., 1990 (6) befassen sich ausschließlich mit der Polyneuropathie bei Lyme-Borreliose in den USA. In diesen Publikationen wird die Polyneuropathie ohne Assoziation mit der ACA beschrieben. In der Arbeit von Logigian et al., 1990 (6) wird die Häufigkeit der Polyneuropathie bei LNB mit 70%, in der Arbeit von Halperin et al., 1987 (7) mit 36% angegeben.

Die einzige Publikation, die Angaben zur Häufigkeit einer Polyneuropathie bei ACA macht, ist die Studie von Kristoferitsch et al., 1988 (5). In dieser Studie zeigten 50% der Patienten mit ACA eine Polyneuropathie.

 

Pathologisch-anatomisch beruht die Polyneuropathie bei LB auf einer Schädigung des Axon und der Schwannschen Scheide (vgl. Abb. 12.39).

Ursache der Schädigung sind ausschließlich entzündliche Vorgänge; eine Vasculitis im Bereich des Perineuriums wurde als Ursache der Nervenschädigung ausgeschlossen (Abb. 12.40) (5).

Die Häufigkeit der Polyneuropathie bei LB lässt sich auf der Basis von Literaturdaten annähernd kalkulieren. Bei der LB sind bei 20% der Patienten neurologische Symptome nachweisbar, d.h. es liegt eine Lyme-Neuroborreliose vor. Davon entfallen 70% auf eine Polyneuropathie. Hieraus ergibt sich, dass bei der Lyme-Borreliose III bei etwa 15% der Patienten mit einer Polyneuropathie zu rechnen ist (vgl. Kap. 12.26).

Bei der körperlich neurologischen Untersuchung fällt bei einer beginnenden Polyneuropathie meistens zunächst eine Störung des Vibrationsempfindens auf und zwar in den unteren Extremitäten. Motorische Störungen treten sehr viel später auf, können jedoch im Laufe von Jahren zu erheblichen Behinderungen führen. Im Gegensatz zu den hereditären Formen der Polyneuropathie zeigt auch die entzündliche Polyneuropathie bei LB eine etwas unregelmäßige Lokalisation der neurologischen Symptome und Befunde, in der Regel besteht zudem keine strenge Symmetrie (vgl. Tab. 12.41).

Tab. 12.41

Relativ früh sind die Muskeleigenreflexe verändert oder fehlend. Dies gilt insbesondere für den ASR.


Der Liquor ist bei der Polyneuropathie verständlicherweise unauffällig, es sei denn, dass gleichzeitig eine Entzündung im zentralen Nervensystem mit Meningitis besteht.

Die Elektroneurographie zeigt bei einer vorwiegend axonalen Störung Veränderungen des Aktionspotentials, nicht jedoch der Nervenleitungsgeschwindigkeit. Bei der demyelinisierenden Schädigung ist der elektroneurographische Befund deutlich ausgeprägter und betrifft Nervenleitungsgeschwindigkeit und Aktionspotential (Abb. 12.41).

 

Ein Fehlen des H-Reflexes und/oder der F-Welle spricht für eine Neuroradiculitis, Plexopathie oder Läsionen im proximalen Bereich der peripheren Nerven. Liegt ausschließlich eine Polyneuropathie vor, sind diese Phänomene (H-Reflex, F-Welle) nicht betroffen. Durch die Prüfung von H-Reflex und F-Welle lässt sich also bis zu einem gewissen Grade zwischen Störungen infolge Radiculopathie bzw. Polyneuropathie unterscheiden (vgl. Kap. 12.8).


Die elektroneurographischen Daten bei axonaler, demyelinisierender Schädigung und Radiculopathie sind in Tab. 12.42 dargestellt.

Auch die Elektromyographie trägt zum Nachweis einer Polyneuropathie bei. Verwiesen sei auf die Abb. 12.42.

Abb. 12.39
Abb. 12.40
Abb. 12.41
Tab. 12.43

Tab. 12.42
Abb. 12.42
Literaturverzeichnis

  1. Leitlinie Neuroborreliose, Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2008, AWMF online.
  2. Hopf HC. Peripheral neuropathy in acrodermatitis chronica atrophicans (Herxheimer). J Neurol Neurosurg Psychiatry. 1975; 38:452-8.
  3. Halperin JJ, Luft BJ, Anand AK, Roque CTl, Alvarez O, Volkmann DJ, Dattwyler RJ. Lyme neuroborreliosis: central nervous system minifestations. Neurol. 1990; 40(1):189-91.
  4. Logigian EL, Kaplan RF, Steere AC. Successful treatment of Lyme encephalopathy with intravenous ceftriaxone. J Infect Dis. 1999; 180:377-83.
  5. Kristoferitsch W, Sluga E, Graf M, Partsch H, Neumann R, Stanek G, Budka H. Neuropathy assiociated with acrodermatitis chronica atrophicans. Clinical and morphological features. Ann N Y Acad Sci. 1988; 539:35-45.
  6. EL Logigian, RF Kaplan, AC Steere. Chronic neurologic manifestations of Lyme disease. N Engl J Med. 1990; 323(21):1438-44.
  7. JJ Halperin, BW Little, PK Coyle, RJ Dattwyler. Lyme disease: cause of a treatable peripheral neuropathy. Neurology. 1987; 37(11):1700-6.