Lehrbuch Lyme-Borreliose


21.2

Symptomatik der LB im Spätstadium, Einschlusskriterien, Post-Lyme-Syndrom


Seit der Erstbeschreibung eines Lyme-Borreliose-Spätstadiums („Late Disease“) nach antibiotischer Behandlung des Erythema migrans durch Steere et al. 1983 besteht in der wissenschaftlichen Medizin die Bemühung, das Krankheitsbild durch eine typische (spezifische) Symptomatik zu definieren. Dabei ergeben sich wesentliche Probleme und Widersprüche, allerdings nur im Hinblick auf das Spätstadium. Mit dem Ziel einer besseren Krankheitsdefinition des LB-Spätstadiums wird zwischen spezifischen und unspezifischen Symptomen unterschieden. Dabei weisen die Einschätzungen verschiedener medizinischer Institutionen oder wissenschaftlicher Autoren allerdings erhebliche Diskrepanzen auf.

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass folgende Begriffe Synonyma darstellen: Lyme-Borreliose (Spätstadium), Lyme-Borreliose Stadium III, „Late Lyme Disease“ (LLD), chronische Lyme-Borreliose (vgl. Tab. 21.1).

Die Problematik, welche Krankheitsmanifestationen einem LB-Spätstadium zuzuordnen sind, beginnt also mit der oben bereits genannten Arbeit von Steere et al. 1983. In dieser Studie wurden Patienten mit Erythema migrans (EM) antibiotisch behandelt und zwar mit Phenoxymethyl-Penicillin, Erythromycin und Tetracyclin. Die Behandlungsdauer betrug 10 Tage, bei einigen Patienten wurde die Behandlung für weitere 10 Tage wiederholt. Die Analyse ergab, dass ca. 50% der behandelten Patienten geheilt wurden, bei den anderen 50% persistierte ein LB-Spätstadium („Late Disease“) (vgl. Tab. 21.2 und 21.3).

Dabei unterschieden die Autoren (Steere et al.) zwischen „Minor“ und „Major Late Disease“. Die entsprechende Zuordnung der Symptome bei „Major„ bzw. „Minor Late Disease“ ist der Tab. 21.4 zu entnehmen. Im Hinblick auf die Pathophysiologie der „Minor Late Disease“ wurde diskutiert, dass eine stark verminderte Zahl von vitalen Spirochäten diese weniger ernsten, aber mitunter erheblich belastenden („debilitating“) Symptome bewirken könnten.

Die weitere Aufarbeitung der Daten betraf das Beschwerdebild. Dabei wurde unterschieden zwischen Beschwerden bei vorliegender „Late Disease“ und Beschwerden „Late Disease“. In der Gruppe der Patienten mit „Late Disease“ wurden alle Probanden einbezogen, die an Symptomen der „Minor“ oder der „Major Late Disease“ litten. Die Definition der „Late Disease“ ergab sich folglich aus den Symptomen dieser beiden Gruppen („Minor“ und „Major Late Disease“) (vgl. Tab. 21.4). Entsprechend wurden alle jene Patienten, die nach antibiotischer Behandlung eines EM nicht die Krankheitssymptome der „Minor“ oder „Major Late Disease“ aufwiesen, als Patienten ohne „Late Disease“ bezeichnet (Tab. 21.5).

Geprüft wurde, mit welcher Häufigkeit bestimmte Beschwerden bei den Patienten mit „Late Disease“ bzw. solchen „ohne Late Disease“ auftraten. Bei diesen untersuchten Beschwerden handelt es sich um Kopfschmerz, Nackensteifheit, starke Gelenkschmerzen, Fatigue (vgl. Tab. 21.5). Dabei zeigte sich, dass diese Beschwerden auch häufig bei solchen Patienten auftraten, die die Kriterien der „Late Disease“ nicht erfüllten, die also nach Auffassung von Steere et al. nicht an einer „Late Disease“ litten (vgl. Tab. 21.6). Allerdings traten Kopfschmerz und Fatigue in der Gruppe mit „Late Disease“ signifikant häufiger auf.

Die Einstufung unter „No Late Disease“ erfolgte, wenn der körperliche Untersuchungsbefund unauffällig war. Zeigten sich jedoch bei der körperlichen Untersuchung objektivierbare Befunde einer „Minor“ oder „Major Late Disease“, wurden die Patienten der Gruppe „Late Disease“ zugeordnet (vgl. Tab. 21.6). Unklar bleibt allerdings in diesem Zusammenhang, dass „Muskelskelettschmerzen und Kopfschmerzen“ ebenfalls als Manifestation der „Late Disease“ reklamiert wurden, obwohl Schmerzen bei der körperlichen Untersuchung nicht objektivierbar sind.

Die aktuelle Literatur, an der auch Steere beteiligt ist, fasst die Symptomatik des LB-Stadiums deutlich weiter. Bezüglich der Einzelheiten sei auf die Tab. 21.10 verwiesen. Im Gegensatz zu den früheren restriktiven Kriterien werden jetzt eine Reihe weiterer Symptome des LB-Spätstadiums benannt: sekundäre Arthrose, Encephalopathie (leichte kognitive Störungen), beeinträchtigte Kognition (mit intrathekalen AK), Fibrome an Knochenvorsprüngen, Morphaea-ähnliche Hautveränderungen. Zudem wird der differentialdiagnostische Ausschluss anderer Krankheiten gefordert. Der Hinweis auf die Differentialdiagnose ist von erheblicher Bedeutung, da bei einem noch breiter gefassten Symptomen-Spektrum (vgl. Tab. 21.10) die Differentialdiagnose die entscheidende Basis für die Erkennung einer chronischen Lyme-Borreliose darstellt, d.h. die Diagnose eines LB-Spätstadiums ist oft eine Ausschlussdiagnose.

Als Post-Lyme-Syndrom (PLS) bezeichneten Bujak et al. 1996 (vgl. Tab. 21.8) Symptome, die nach antibiotischer Behandlung entsprechend dem IDSA-Standard persistierten. Bei diesen Symptomen handelt es sich im Wesentlichen um Gelenkschmerzen, Fatigue und neurologische Störungen. Bezüglich weiterer Einzelheiten dieser grundlegenden Arbeit zum PLS sei auf das Kap. 21.4 verwiesen.

Die Infectious Disease Society of America (IDSA) publizierte in 2006 eine neue Definition des PLS. In diesem Zusammenhang wurde eine vorausgehende Lyme-Borreliose im Früh- oder Spätstadium gefordert, die nach Standard (IDSA) adäquat antibiotisch behandelt worden war. Die danach persistierenden Symptome wurden als PLS bezeichnet und umfassten die Symptome Fatigue, Muskelskelettschmerzen, kognitive Störungen unter dem wesentlichen Vorbehalt, dass die Beschwerden keine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und der sozialen Funktionen verursachten (Tab. 21.9).

Die Centers of Disease Control and Prevention definierten 1997 Kriterien eines LB-Spätstadiums (vgl. Tab. 21.6). Zugleich benannten die CDC auch solche Symptome, die als Kriterium für ein LB-Stadium nicht zu akzeptieren waren (Tab. 21.7). Dabei ergaben sich weitgehend Übereinstimmungen zwischen den Daten aus der Studie Steere et al. 1983, allerdings sind die etwa 15 Jahre nach Steere definierten CDC-Kriterien etwas weiter gefasst (Tab. 21.6).

Zugleich benannte die CDC auch solche Symptome, die sie als Kriterien bei dem LB-Spätstadium nicht akzeptierten. Zu diesen sogenannten „unspezifischen Symptomen“ gehörten Kopfschmerz, Fatigue, Parästhesien, leichte Nackensteife, Herzklopfen, Bradykardie, Schenkelblock, Myocarditis ohne AVB (vgl. Tab. 21.7).

Basierend auf der sehr umfangreichen Literatur zur LB hat die Deutsche Borreliose Gesellschaft (DBG) eine Symptomenübersicht dargestellt, die sich auf das Spätstadium der Lyme-Borreliose (chronische Lyme-Borreliose) bezieht (Tab. 21.11). Zwecks weiterer Informationen sei auf die Leitlinien der DBG verwiesen.

 

Stanek et al. haben in 2011 neue Falldefinitionen für Europa im Hinblick auf die Lyme-Borreliose vorgestellt. Dabei wurden nur wenige Krankheitsmanifestationen einbezogen (Tab. 21.12), so dass sich deutliche Diskrepanzen zu der aktuellen Literatur zeigen (vgl. Tab. 21.10 und 21.11). Auch enthält die Publikation keinen Hinweis auf die Differentialdiagnose und die Tatsache, dass die chronische Lyme-Borreliose oft auf einer Ausschlussdiagnostik basiert.

Die abschließende Übersicht (Tab. 21.13) zeigt die zum Teil erheblichen Unterschiede bei der Beschreibung der Symptomatik des LB-Spätstadiums. Zugleich wird deutlich, dass die Symptomatik der Lyme-Borreliose zunehmend breiter und facettenreicher dargestellt wird.

 

Derzeit bestehen Bestrebungen, in einer S3-Leitlinie die Einschlusskriterien der Lyme-Borreliose zu definieren, also Daten, auf denen die Diagnose einer Lyme-Borreliose basieren kann. Eine solche S3-Linie stützt sich auf Expertenmeinungen, die sich an der klinischen Erfahrung, deskriptiven Studien und Berichten von Expertenkomitees orientiert. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nur wenige Krankheitsmanifestationen für eine Lyme-Borreliose krankheitsbeweisend sind:

  • Erythema migrans
  • Acrodermatitis chronica atrophicans
  • Akute Neuroborreliose mit pathologischem Liquor inklusive intrathekaler Antikörperbildung
  • (Erregernachweis)

Neben diesen krankheitsbeweisenden Befunden gibt es weitere Symptome, die mit einer Lyme-Borreliose vereinbar sind und mit unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Zudem kann das einzelne Symptom auch bei anderen Krankheiten vorkommen: Ist das einzelne Symptom auch bei zahlreichen anderen Krankheiten bekannt, würde dessen Einordnung in die Kategorie „unspezifisch“ tendieren. Andererseits würde bei relativ geringerer Überschneidung mit anderen Krankheiten eher die Tendenz zu „spezifisch“ entstehen. In beiden Fällen, ob unspezifisches Symptom oder spezifisches Symptom, muss die Abgrenzung zwischen Lyme-Borreliose und sonstigen Erkrankungen auf der Differentialdiagnose beruhen, da andere Differenzierungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Aus diesem Grunde wird in der modernen Literatur (Linden, Steere, Turner 2012, Tab. 21.10) ausdrücklich auf den differentialdiagnostischen Ausschluss anderer Krankheiten hingewiesen. Der Begriff „spezifisches Symptom“ ist also bei der Lyme-Borreliose grundsätzlich problematisch, da sämtliche Symptome (außer den oben genannten beweisenden Manifestationen) auch bei anderen Krankheiten beschrieben sind und somit für die Lyme-Borreliose nicht spezifisch sein können. Aus demselben Grunde ist auch der Begriff „unspezifisches Symptom“ problematisch, da das Vorkommen in der wissenschaftlichen Literatur belegt ist. In der logischen Konsequenz ergibt sich also lediglich, dass die Differentialdiagnose bei einem sogenannten spezifischen Symptom weniger umfangreich ist als bei einem sogenannten unspezifischen Symptom.

Tab. 21.1
Tab. 21.2
Tab. 21.3
Tab. 21.4
Tab. 21.5
Tab. 21.6
Tab. 21.7
Tab. 21.8
Tab. 21.9
Tab. 21.10
Tab. 21.11

Tab. 21.13
Tab. 21.14

Im Hinblick auf Expertengruppen und vorgesehene S3-Leitlinien wäre es zweckmäßig, wenn die Symptomatik möglichst breit erfasst wird, selbstverständlich auf der Basis der Literatur. So würde die diagnostische Basis verbreitert und die Diagnose sicherer. Dies hätte allerdings den Preis, dass der differentialdiagnostische Umfang und damit die ärztliche Arbeit größer würden.

Bei einer solchen Zielsetzung einer breit gefassten Symptomatik wäre allerdings die Unterscheidung nach „spezifisch“ und „unspezifisch“ unlogisch; sinnvoll wäre nur mehr eine Unterscheidung der Symptome nach ihrer Häufigkeit. Auf der Basis der Häufigkeitseinschätzung würde die diagnostische Relevanz des einzelnen Symptoms also nicht nur qualifiziert, sondern quantifiziert. Dies gilt allerdings nur für relativ häufig vorkommende Symptome einer LB, bei den sonstigen Symptomen würde der Hinweis auf die Seltenheit ausreichen (vgl. Tab. 21.14).

 

Die Bezeichnung „spezifisches Symptom“ bzw. „unspezifisches Symptom“ ergibt sich grundsätzlich aus dem Vergleich zwischen verschiedenen Krankheiten und basiert auf der Häufigkeit, mit der die Symptome bei den einzelnen Krankheiten auftreten. Ist ein Symptom bei einer bestimmten Krankheit im Vergleich zu anderen Krankheiten relativ häufig, besteht die Tendenz, das Symptom als spezifisch zu bezeichnen, umgekehrt ist ein seltenes Vorkommen eher unspezifisch. Tritt ein Symptom nur bei einer einzigen Krankheit und nicht bei anderen Krankheiten auf, sollte aus Gründen der Präzision eher der Begriff „krankheitsbeweisend“ als „spezifisch“ benutzt werden. Die Diagnosestellung allein auf der Basis, dass „spezifische Symptome“ vorliegen ist fragwürdig, ebenso wie der Ausschluss einer Krankheit mit der Begründung, dass nur unspezifische Symptome bestehen. Grundsätzlich ist ein jegliches Symptom, ob spezifisch oder unspezifisch, der Differentialdiagnose zu unterziehen, um es der tatsächlich zutreffenden Krankheit zuzuordnen.

Der entscheidende und nicht hinzunehmende Nachteil nach Unterscheidung „spezifisch“ und „unspezifisch“ ist die Gefahr, dass bei einer bestimmten Anzahl von angeblich „spezifischen Symptomen“ die Diagnose Lyme-Borreliose gerechtfertigt wäre und sich eine umfassende Differentialdiagnose erübrigte. Andererseits würde bei ausschließlichem oder vorwiegendem Vorliegen unspezifischer Symptome die Diagnose als unwahrscheinlich gelten, das Ziel „Ausschluss einer Lyme-Borreliose“ wäre erreicht, und die sogenannten „unspezifischen Symptome“ würden keiner Kausalanalyse unterzogen. Entscheidend ist jedoch, dass auch bei „unspezifischen Symptomen“ im Rahmen der Differentialdiagnose alle in Betracht kommenden Ursachen bedacht werden. In der Regel führt eine solche Analyse zum Ausschluss sonstiger Krankheiten, so dass sich die Feststellung einer Lyme-Borreliose als Ausschlussdiagnose ergibt. Wie die bisherige Erfahrung zeigt, ist es fatal, eine Lyme-Borreliose diagnostisch auszuschließen allein auf der Grundlage, dass lediglich „unspezifische Symptome“ vorlägen. Folge ist eine unterlassene oder unvollständige diagnostische Analyse nach dem Tenor, dass „unspezifische Symptome“ grundsätzlich eine diagnostische Einordnung nicht zulassen und damit jegliches diagnostische Bemühen überflüssig sei.