Inhaltsverzeichnis
6.4.1 Diagnostische Aspekte der Neuroborreliose (33-37)
6.4.2 Klinische (therapeutische) Aspekte der Neuroborreliose (38-44)
Im Handbuch Neurologie 2012 hat H. W. Pfister das Kapitel 6.4 Neuroborreliose aktualisiert. Der entsprechende Text wird im Folgenden vollständig zitiert unter Angabe der im Kapitel 6.5 angegebenen Literatur.
6.4 Neuroborreliose
6.4.1 Diagnostische Aspekte der Neuroborreliose (33-37)
Im Jahr 2011 wurden 4 klinische Studien zur Bedeutung des Chemokins CXCL13 im Liquor bei Patienten mit Neuroborreliose publiziert: In einer prospektiven klinischen Studie, die am Klinikum
Großhadern in München durchgeführt wurde (33), zeigte sich eine Sensivität von CXCL13 im Liquor bei Neuroborreliose-Patienten von 94,1% bei einer Spezifität von 96,1%. In der Gruppe der
„Nicht-Neuroborreliose“-Patienten konnten erhöhte CXCL13-Spiegel im Liquor bei 5 Patienten mit ZNS-Lymphom nachgewiesen werden.
In einer niederländischen Studie wurden Liquor-CXCL13-Spiegel bei 58 unbehandelten Patienten mit Neuroborreliose (45 Patienten mit gesicherter, 13 Patienten mit wahrscheinlicher Neuroborreliose)
untersucht (34).
Die Dauer der Symptome reichte von 7 Tagen bis 48 Monaten. 41% der Neuroborreliose-Patienten waren Kinder. 60% hatten eine Fazialisparese und 25% eine Meningoradikulitis. 17% der Patienten hatten
eine positive Anamnese eines Erythema migrans. In der Kontrollgruppe wurden 36 Patienten mit Borreliose (ohne die Diagnosekriterien einer Neuroborreliose), 93 Patienten mit Meningitis /
Enzephalitis anderer infektiöser Genese, 62 Patienten mit neurologischen entzündlichen Erkrankungen und 12 Patienten mit nicht entzündlichen neurologischen Beschwerden untersucht, ferner 7 nur
HIV-positive Patienten (34). Die Studie zeigte eine Sensitivität von 88% bei einer Spezifität von 89%. Erhöhte Liquor-CXCL13-Spiegel fanden sich u.a. bei Patienten mit Neurosyphilis,
HIV-Meningitis, Streptokokken-Infektion, Toxoplasmose und
Multipler Sklerose.
In einer schwedischen Studie wurden CXCL13-Spiegel bei 261 Patienten untersucht:
124 Patienten mit gesicherter Neuroborreliose, Altersspanne 3-87 Jahre, 45 Patienten mit möglicher Neuroborreliose und 92 Patienten mit einer anderen Diagnose (35). Es zeigte sich eine Sensivität
von 99% und eine Spezifität von 96% des Liquor-/Serum-CXCL13-Quotienten.
In einer österreichischen Studie wurden CXCL13-Bestimmungen in Liquor und Serum von 33 Kindern und 42 erwachsenen Patienten mit Neuroborreliose, davon 22 Patienten mit gesicherter
Neuroborreliose, durchgeführt (36).
Es zeigte sich, dass CXCL13-Spiegel im Liquor bei allen Patienten mit gesicherter Neuroborreliose und darüber hinaus bei allen 8 Patienten mit wahrscheinlicher Neuroborreliose erhöht waren. In
der nicht-Neuroborreliose-Gruppe fanden sich bei 2 Patienten
(Neurosyphilis, bakterielle Meningitis) erhöhte Liquor-CXCL13-Spiegel.
Kommentar:
Diese vier publizierten Studien sprechen bei hohen Sensivitäten und Spezifitäten für die Relevanz von CXCL13 als diagnostischer Liquormarker bei Patienten mit akuter Neuroborreliose. Von Bedeutung ist, dass bisherige Beobachtungen nahelegen, dass CXCL13 im Liquor früher als ein erhöhter B. burgdorferi-Liquor-Serum-Antikörper-Index nachgewiesen werden kann. Auch sinken die CXCL13-Werte unter Antibiotika-Therapie schnell ab, so dass zwischen einer „Seronarbe“ und einer aktiven Infektion unterschieden werden kann (im Gegensatz zum B. burgdorferi-Liquor-Serum-Antikörperindex, der jahrelang positiv bleiben kann).
Fazit für die Praxis:
Bei einem typischen klinischen Bild einer akuten Neuroborreliose, d.h. einem Bannwarth-Syndrom, ist die Bestimmung von CXCL13
im Liquor nicht erforderlich und nicht empfehlenswert. Eine Bestimmung von CXCL13 im Liquor könnte bei bestimmten Konstellationen hilfreich sein, z.B. (a) in der sehr frühen Krankheitsphase bei
klinischem Verdacht auf eine akute Neuroborreliose, wenn der Borrelien-Liquor-Serum-Antikörper-Index noch negativ ist, oder (b) bei atypischer klinisch-neurologischer Symptomatik und positivem
Borrelien Liquor-Serum-Antikörper-Index. Ausreichende Daten bei der chronischen Neuroborreliose liegen bislang nicht vor.
In der Diagnostik der Borrelieninfektion wird von einzelnen Laboren der Lymphozytentransformations-Test (LTT) empfohlen. Der LTT misst die Stimulierbarkeit von Lymphozyten durch
Borrelienantigene. Der Test ist aber nicht standardisiert und es bestehen sehr große Zweifel an der ausreichenden Spezifität des Tests.
In einer klinischen Untersuchung (Kooperation Uniklinik Göttingen und Medizinisches Labor Bremen) wurde die Wertigkeit des LTT bei Patienten mit akuter Neuroborreliose im Vergleich zu anderen
Patientengruppen untersucht (37). In der vergleichbaren Untersuchung zeigten sich insgesamt keine signifikanten Unterschiede zwischen gesunden Kontrollen, Patienten mit akuter Neuroborreliose
(charakteristisches klinisches Bild, Pleozytose, positiver Borrelien-spezifischer Liquor-/Serum-Antikörper-Index), Patienten mit nur positiver Borrelien-Serologie (keine Liquor-Pleozytose,
negativer Liquor-/Serum-Antikörper-Index) und Patienten
mit anderen klar definierten neurologischen Erkrankungen.
Kommentar:
Die Untersuchung unterstreicht die Spezifitätsprobleme des Borrelien-LTT. Mit dem hier verwendeten LTT (als Antigene wurden rekombinant hergestelltes OspC, p18 und p100 eingesetzt) kann nicht zuverlässig zwischen einer aktiven und überstandenen Borrelieninfektion unterschieden werden.
Fazit für die Praxis:
Der LTT wird aufgrund von Spezifitätsproblemen in der Diagnostik der Lyme-Borreliose/Neuroborreliose nicht empfohlen. Es gibt bislang keine wissenschaftlich gesicherten Daten, die einen Nutzen des LTT/Elispot belegen und den Einsatz in der Diagnostik der Borreliose rechtfertigen. Der Test ist insbesondere auch nicht geeignet, die Krankheitsaktivität einer Borrelieninfektion anzuzeigen; aus dem Testergebnis darf keine Therapieentscheidung abgeleitet werden. Zusammengefasst ist der Borrelien-LTT als Diagnoseinstrument und als Verlaufsparameter in der Borreliendiagnostik ungeeignet.
6.4.2 Klinische (therapeutische) Aspekte der Neuroborreliose (38-44)
Die Diagnose der Neuroborreliose beruht auf dem Nachweis einer lymphozytären Liquorpleozytose und einer borrelienspezifischen intrathekalen Antikörperproduktion; bei sehr kurzer Krankheitsdauer
kann allerdings der borrelienspezifische Liquor-Serum-Antikörper-Index noch negativ sein (38). Ceftriaxon (2 g/die i.v.) gilt als Standardantibiotikum in der Therapie der Neuroborreliose. Als
Alternativpräparat kommt Doxycyclin (200 mg/die p.o.) in Betracht. Die in der Regel empfohlene Behandlungsdauer in den Frühstadien der Lyme-Borreliose liegt bei 14 Tagen, im chronischen Stadium
bei 2-4 Wochen (39).
Es gibt auch im Jahre 2011 mehrere ungewöhnliche neurologische Fallberichte im Zusammenhang mit einer Borrelieninfektion; hierzu zählen:
Kommentar:
Es handelt sich hier um sehr atypische klinische Bilder, die einer Neuroborreliose zugeordnet wurden. Bei allen Patienten fand sich eine Liquorpleozytose. Die Diagnose basierte auf dem Nachweis
einer autochthonen intrathekalen Borrelien-spezifischen Antikörperproduktion (bei den Fällen in den Publikationen 40, 41 und 43) und dem kulturellen Erregernachweis im Liquor (ein Fall
in der Publikation 42).
Fazit für die Praxis:
Nach einer Neuroborreliose kann viele Jahre eine borrelienspezifische intrathekale Antikörperproduktion in Form eines erhöhten
Borrelien-Liquor-Serum-Antikörper-Index nachweisbar bleiben. In der diagnostischen Einordnung atypischer Krankheitsbilder als Neuroborreliose muss daher stets die Möglichkeit einer Koinzidenz
einer früher durchgemachten Neuroborreliose und einer
aktuell anderen entzündlichen ZNS-Erkrankung bedacht werden.
Es gibt in der Fach- und Laien-Presse Gruppierungen, die die Diagnose einer „chronischen Lyme-Borreliose“ (chronic Lyme disease) propagieren, obwohl nur unspezifische Beschwerden vorliegen,
ferner den Einsatz von diagnostischen Methoden fordern, deren wissenschaftlicher Beleg allerdings nicht erbracht ist und darüber hinaus ungewöhnlich lange Antibiotika-Therapie-Zyklen empfehlen
(44). In einer kritischen Übersicht wurde Stellung genommen zu den Forderungen dieser Lyme-Aktivisten oder LLMDs (Lyme Literate Medical Doctors, definiert als Mediziner, die sich auf das Gebiet
der „chronischen Lyme Disease“ spezialisiert haben und den Anspruch erheben, Experten in der Diagnostik und Therapie der „chronischen Lyme Disease“ zu sein).
Insbesondere wird in dieser Übersichtsarbeit darauf hingewiesen, dass die nachfolgenden Aussagen bzw. Empfehlungen dieser Gruppierungen wissenschaftlich nicht belegt sind oder nachweislich falsch
sind:
(a) die meisten Patienten haben nur subjektive Symptome,
(b) es handelt sich um eine unheilbare Krankheit, wenn nicht früh behandelt wird,
(c) die meisten Patienten haben verschiedene Co-Infektionen wie Infektionen mit Bartonella, Babesia, Mycoplasma, Chlamydia oder Anaplasma,
(d) Borrelia burgdorferi ist ein intrazellulärer Erreger, der Antibiotika-resistente Zysten sowie ein Neurotoxin produziert,
(e) die übliche Dauer und Dosierung der Antibiotika ist nicht ausreichend, eine Open-End-Therapie mit verschiedenen Antibiotika wird benötigt,
(f) Kombinationen von Antibiotika sind erforderlich, um Borrelia burgdorferi zu eliminieren.
Folgende diagnostischen Tests, die von den „chronic Lyme disease“-Aktivisten propagiert werden, können aufgrund von Sensitivitäts- und/oder Spezifitäts-Problemen oder fehlender klinischer
Validierung nicht empfohlen werden: sog. CD57-Test; PCR im Blut, Urin und im Liquor, Lymphozyten-Transformations-Test, Immunfluoreszenz für L-Formen von Borrelia.
Kommentar:
Die hier zusammengestellten, von „chronic Lyme disease“-Aktivisten propagierten, wissenschaftlich nicht belegten oder widerlegten diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen werden von den Autoren dieses Artikels als antiwissenschaftliche Aktivitäten („Antiscience“) zusammengefasst. Viele der propagierten diagnostischen Methoden sind nicht hilfreich aufgrund von Spezifitätsproblemen. Die empfohlenen langdauernden Antibiotika-Therapien sind wissenschaftlich nicht bewiesen und potentiell gefährlich (z.B. Nebenwirkungen wie pseudomembranöse Colitis); es sind auch Todesfälle unter lang dauernder Antibiotika-Therapie von letztendlich nicht gesicherten Borreliosen beschrieben (siehe Patel R et al. Death form inappropriate therapy for Lyme disease. Clin Infect Dis 2000; 31:1107-9 und Holzbauer SM et al. Death due to community-associated Clostridium difficile in a woman receving prolonged antibiotic therapy for suspected Lyme disease. Clin Infect dis 2010; 52:369-79).
Fazit für die Praxis:
Unspezifische Symptome rechtfertigen nicht die Diagnose einer klinisch manifesten Borrelieninfektion (chronische Borreliose). Die chronische Neuroborreliose basiert auf dem Vorliegen
neurologischer Defizite in der klinischen Untersuchung in Kombination mit entzündlichen Liquorveränderungen (lymphozytäre Pleozytose und erhöhter borrelien-spezifischer
Liquor-Serum-Antikörper-Index);
andere Ursachen müssen ausgeschlossen werden.
6.5 Literatur
33. Schmidt C, Plate A, Angele B, Pfister HW, Wick M, Koedel U, Rupprecht TA.
A prospective study on the role of CXCL13 in Lyme neuroborreliosis.
Neurology 2011; 76:1051-8.
34. van Burgel ND, Bakels F, Kroes ACM, van Dam AP.
Discriminating Lyme neuroborreliosis from other neuroinflammatory diseases by levels of CXCL13 in cerebrospinal fluid.
J Clin Microbiol 2011; 49:2027-2030.
35. Tjernberg I, Henningsson AJ, Eliasson I, Forsberg P, Ernerudh J.
Diagnostic performance of cerebrospinal fluid chemokine CXCL13 and antibodies to the C6-peptide in Lyme neuroborreliosis.
J Infect 2011; 62:149-158.
36. Wutte N, Berhold A, Löffler S et al.
CXCL13 chemokine in pediatric and adult neuroborreliosis.
Acta Neurol Scand 2010; 124:321-328.
37. Eiffert H, Blocher J, Gerritzen An, Lange P, Wiefek J, Schmidt H.
Liquorkultur, Liquor-PCR, serologische Befunde und Lymphozytentransformationstest bei Patienten mit akuter bzw. nach durchgemachter Neuroborreliose im Vergleich zu Patienten mit nicht bestätigter Neuroborreliose.
Minisymposium 10: Neuroborreliose, 84. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) mit Fortbildungsakademie Wiesbaden, 1. Oktober 2011.
38. Stanek G, Fingerle V, Hunfeld KP, Jaulhac B, Kaiser R, Krause A, Kristoferitsch W, O’Connell S, Ornstein K, Strle F, Gray J.
Lyme borreliosis: clinical case definitions for diagnosis and management in Europe.
Clin Microbiol Infect 2011; 17:69-79.
39. Stanek G, Wormser GP, Gray J, Strle F.
Lyme borreliosis.
Lancet. 2011 Sep 6 [Epub ahead of print].
40. Bababeygy SR, Quiros PA.
Isolated trochlear palsy secondary to Lyme neuroborreliosis.
Int Ophthalmol 2011 Dec 20. [Epub ahead of print].
41. Te Lintelo MP, Koehler PJ, van Diepen TH, Beekman R.
Neuroborreliosis mimicking brachial amytrophic diplegia.
Clin Neurol Neurosurg. 2011 Oct 11. [Epub ahead of print].
42. Dubrovska J, Bazovska S, Pancak J, Zaborska M, Derdakova M, Traubner P.
Infection with B. burgdorferi s.l., and the CNS demyelinating disease. A case report.
Neuro Endocrinol Lett 2011; 32:411-4.
43. van Erp WS, Bakker NA, Aries MJ, Vroomen JP.
Opsoclonus and multiple cranial neuropathy as a manifestation of neuroborreliosis.
Neurology 2011 Sep 6; 77(10):1013-4. Epub 2011 Aug 24.
44. Auwaerter PG, Bakken JS, Dattwyler RJ, Dumler JS, Halperin JJ, McSweegan E, Nadelman RB, O’Connell S, Shapiro ED, Sood SK, Steere AB, Weinstein A, Wormser GP.
Antiscience and ethical concerns associated with advocacy of Lyme diesase.
Lancet Infect Dis 2011; 11:713-719.
Kritische Stellungnahme
(W. Berghoff)
Zu den verschiedenen Textpassagen des Textes von HW Pfister wird im Folgenden in einer tabellarischen Übersicht Stellung genommen (Tab. 1). Die wesentlichen Inhalte werden zitiert und textlich
zugeordnet kommentiert
Tab. 1 | |
CXCL13 | |
Zitat |
Stellungnahme |
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LTT Lymphozytentransformationstest |
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Stellungnahme |
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Ungewöhnliche neurologische Fallberichte |
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Stellungnahme |
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Propagierung „chronische Lyme-Borreliose“ | |
Zitat | Stellungnahme |
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Sonstige unwissenschaftliche Sachverhalte | |
Zitat |
Stellungnahme |
(Bezug Publikation Auwaerter et al
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Differentialdiagnose bei chronischer LB |
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Zitat |
Stellungnahme |
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Abstracts der im Handbuch zitierten Literatur
Im Folgenden werden die abstracts der im Text des Handbuches zitierten Literaturstellen wiedergegeben, soweit sie vorliegen.